Als ich die Aussagen des österreichischen Nationalratspräsidenten Sobotka und seiner Parteikollegin, der österreichischen Ministerin Köstinger zum Thema Wahrheitspflicht in Untersuchungsausschüssen hörte, fielen mir Hannah Arendt, Albert Camus und George Orwell ein. Arendt, weil sie in ihrem Essay Wahrheit und Lüge in der Politik klar aufdeckt, dass die Berufspolitik auch in Demokratien mit der Wahrheit auf Kriegsfuß steht und sie zumindest so zu interpretieren und biegen versucht, dass es der jeweils eigenen Position nützt. Das allein hält Arendt weder für überraschend noch für besonders verwerflich. Wir wissen alle, dass in Interviews und Wahlkämpfen regelmäßig gelogen wird, auch wenn sich kaum jemand traut, die Lüge beim Namen zu nennen. Vorsichtshalber sagen mittlerweile sogar kritische Journalist*innen meist Halbwahrheiten, Unwahrheiten oder alternative Fakten dazu, so als wäre das Wort „Lüge“ eine unzumutbare oder gefährliche Diffamierung des Lügners. Das hat damit zu tun, dass die Wahrheit, so selten sie gesagt wird, doch als Wert gilt, besonders in Demokratien. Nicht die Wahrheit zu sagen, ist das eine. Aber zu sagen, die Wahrheit wäre irrelevant, das geht dann doch zu weit. Für Hannah Arendt beginnt das Problem, wenn Tatsachenwahrheiten systematisch verleugnet oder ignoriert werden. Das verneble den Orientierungssinn und hätte auf Dauer negative Auswirkungen. Klar: Wenn keiner mehr weiß, was wahr und was falsch ist, verliert auch die demokratische Debatte ihre Basis.
Der zweite Name, der mir einfiel, ist der Philosoph, Literaturnobelpreisträger und Widerstandskämpfer Albert Camus. Auch wenn es seiner Ansicht nach nicht immer leicht ist, die Wahrheit zu erkennen und sogar gefährlich, für sich die Wahrheit zu pachten, so ist die Faktentreue doch das Fundament der Demokratie und immer anzustreben. Denn die Lüge ist das Mittel der Autoritären, der Diktatoren. Systematische Lüge führe in die Tyrannei. Camus beschreibt in seinem Stück „Caligula“, wie der römische Diktator seine eigene Welt, seine eigenen Vorstellungen zum Dogma macht und sich immer weniger darum schert, was Wahrheit und was Lüge ist. Hier wird eine zweite Ebene sichtbar. Während in der Demokratie die Wahrheit zwar verdreht wird, während Lügen an der Tagesordnung sind, um die Mehrheit zu täuschen, ist in der Tyrannis bereits gleichgültig, ob gelogen wird oder nicht. Die Wahrheit hat ihren Wert verloren. Die Lüge ist genauso legitim.
Der dritte Name ist George Orwell. Er bereichert die Assoziationen zu Arendt und Camus mit seinem Roman 1984 und dem berühmt-berüchtigten Wahrheitsministerium. Dieses Wahrheitsministerium ist zuständig für das Nachrichtenwesen, die Freizeitgestaltung, das Erziehungswesen und die schönen Künste, also für alle Orte, an denen Menschen informiert oder gebildet werden. Es soll dafür sorgen, dass alle nur die eine Wahrheit erfahren und niemand an diesen Wahrheiten zweifelt. Aus dieser Geschichte leite ich zwei weitere Ideen ab, die mir bei den Worten Sobotkas und Köstingers einfielen: Erstens fragte ich mich, wie wir an irgendeinem Ort noch die Wahrheit als erstrebenswert erachten sollten, wenn nicht im Parlament. Wie sollten wir unseren Kindern erklären, was Lüge und Wahrheit sind und was sie bewirken, wie sollten wir von den Medien verlangen können, sich an der Wahrheit zu orientieren, wenn der Nationalratspräsident sie für störend im Parlament erachtet. Zweitens: Der Roman 1984 ist eine politische Dystopie, also ein Zukunftsbild, das Orwell zur Abschreckung vor Diktaturen und Überwachung zeichnete.
Zurück zu Sobotka und Köstinger. Sie meinen also, man sollte die Wahrheitspflicht in Untersuchungsausschüssen überdenken. Damit sagen sie mehrere Dinge: 1. Dass die Wahrheit nicht erfragt werden darf, 2. Dass Politiker*innen lügen, wenn sie nicht mit Sanktionen bedroht werden, 3. Dass die Demokratie nicht so wichtig ist. Die beiden ersten Punkte erschließen sich von allein, der letzte eigentlich auch, aber zur Erinnerung: Die Wahrheit als Tatsachenwahrheit ist ein zentraler Bestandteil einer Demokratie. Wenn wir darauf systematisch verzichten, zerfällt sie, denn die Wähler*innen verlieren die Orientierung (Arendt), die Diktator*innen bestimmen, was wahr und was falsch ist (Camus) und alle Bereiche des Lebens werden mit der Lüge durchflutet (Orwell).
In den letzten Jahren haben autoritäre Populist*innen weltweit gezeigt, wie sie die Wahrheit verdrehen. Aber sie bemühten sich so zu tun, als wäre Wahrheit an sich noch ein Wert, der Geltung hat. Mit den Aussagen von Sobotka und Köstinger wird der Wahrheit ihr Wert an sich abgesprochen. Das ist gefährlich für eine Demokratie. Vielleicht ist ihnen das passiert, weil sie weder Arendt noch Camus oder Orwell kennen. Vielleicht haben sie aus Unwissenheit Unsinn geredet. Dann sollten sie sich politisch bilden und bei den dreien nachlesen. All ihre Parteikolleg*innen sollen aber dringend Stellung beziehen und sagen, wie sie es halten mit der Wahrheit und der Demokratie.