1. Die ehemaligen Großparteien schrumpfen

In vielen europäischen Ländern sind die konservativen Volksparteien und vor allem die Sozialdemokratie am absteigenden Ast. Dies gilt für Frankreich und Deutschland ebenso wie für Griechenland, Italien oder Spanien, die Niederlande oder Österreich. Gleichzeitig wachsen neue Parteien an den Rändern des politischen Spektrums und ziehen den ehemals dominanten Akteuren mehr und mehr Stimmen ab. Syriza, Podemos, die Linke oder France Insoumise tun dies am linken, die FPÖ, AfD, der Front National oder Geert Wilders am rechten Rand. Darüber hinaus entstehen neue Bewegungen wie En Marche, die sich als ausgleichende, pragmatische Alternativen im Zentrum verstehen. Diese Entwicklung hat verschiedene Gründe, u.a. eine Veränderung der Bevölkerungsstrukturen und der Berufsbiographien. Die Gesellschaften Europas sind pluralistischer geworden und lassen sich daher auch nicht mehr in den Rahmen weniger Parteiprogramme pressen. Der Pluralismus in der Gesellschaft spiegelt sich folgerichtig im Parteienangebot wider, daher ist damit zu rechnen, dass klare Wahlsiege oder Mehrheiten künftig unwahrscheinlicher und Koalitionsverhandlungen schwieriger werden.

2. WählerInnen suchen Alternativen an den Rändern und im neuen Zentrum

Die WählerInnen der ehemaligen Großparteien orientieren sich entweder weiter nach links, weiter nach rechts oder zu einer neuen Mitte hin. Die Jüngeren, aber auch beträchtliche Teile von Personen mittleren Alters wenden sich eher in Richtung der Ränder. Ältere WählerInnen, die auch mobiler geworden sind, nehmen häufiger Alternativen in der Mitte wahr. RechtspopulistInnen wie Marine Le Pen punkten am meisten bei ArbeiterInnen und formal weniger Gebildeten, aber nicht nur. Auch 37 % der Angestellten und 21 % der Selbständigen haben sie zuletzt gewählt. Auch unter den WählerInnen der FPÖ gibt es eine Reihe von Selbständigen oder gut verdienenden Mittelständlern mit mittlerem Bildungsniveau. Immer breitere Schichten spricht die 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo in Italien an. Das zeigt, dass es bei Wahlanalysen einen differenzierteren Blick braucht. Die statistischen Mehrheiten erklären nur einen Teil der Realität. Da die Wahlbeteiligung unter weniger Gebildeten und ärmeren Menschen am geringsten ist, können sie nicht als einzige Erklärung für den Aufstieg der RechtspopulistInnen herhalten. Für deren Erfolg sollte daher in Betracht gezogen werden, dass es offenbar in vielen Ländern Europas eine Tendenz zum Autoritarismus gibt oder zumindest eine unzureichende Ablehnung desselben.

3. Erfahrungen des Alltags wirken sich auf das Wahlverhalten aus

Der Alltag der Menschen ist nach wie vor von Autoritarismus geprägt. Neoliberale Wirtschaftskonzepte haben nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich aufgehen lassen. Sie haben sich auch in unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, in unsere Arbeitswelt und in der Schule derart eingenistet, dass wir – vielleicht heute sogar mehr als noch vor einigen Jahrzehnten und trotz aller gegenteiligen Schwüre – stark an Hierarchien glauben, an charismatische Alphatiere, an starke Männer oder Frauen. Das trägt zur Popularität von PopulistInnen bei, wie wir an vielen aktuellen Beispielen von Trump über Farage und Le Pen bis hin zu Grillo oder Orban sehen. Wer sich im Alltag nicht als selbstbestimmtes Individuum erfährt, legt sein politisches Schicksal leichter in die Hände einer einzigen Person. Ich habe dieses Argument in meinem Buch „Demokratie als Revolte“ ausgeführt (www.markuspausch.eu).

4. Europapolitische Positionen entscheiden Wahlen

Die autoritäre Tendenz bringt es mit sich, dass man das Kleine vor dem Großen sieht. Daher lassen sich Wahlkämpfe in vielen EU-Staaten heute mit anti-europäischen oder zumindest sehr europa-skeptischen Positionen gewinnen. Jedenfalls wird die Haltung einer Partei gegenüber der Europäischen Union in vielen Staaten zu einem wahlentscheidenden Faktor. Dass Macron mit einem pro-europäischen Programm in Frankreich Präsident werden konnte, widerspricht dieser These nicht, denn auch er versprach eine EU-Reform und wird daran gemessen werden. In Österreich haben sich die drei größten Parteien im letzten Wahlkampf allesamt als europakritisch bis anti-europäisch präsentiert.

5. Die EU-Mitgliedstaaten werden unberechenbarer

Ein weiterer Trend, der uns die nächsten Jahre begleiten wird, ist die europapolitische Unberechenbarkeit mehrerer EU-Staaten. Spanien steht vor einer Zerreißprobe in der Debatte um den Status Kataloniens. Die Briten werden die EU 2019 verlassen. Italien könnte in absehbarer Zeit von der EU-kritischen 5-Sterne-Bewegung regiert werden. In Österreich zeichnet sich die Beteiligung der EU-skeptischen FPÖ in einer Regierung ab. Hingegen ist in Polen und Ungarn keine Veränderung des nationalkonservativen Kurses in Sicht. Selbst Frankreich mit einem derzeit pro-europäischen Präsidenten kann nicht als Stabilitätsanker betrachtet werden, denn die anti-europäischen Links- und RechtspopulistInnen werden dort weiterhin stark bleiben. Dass sich unter diesen Umständen eine große Vertragsreform machen lässt, scheint zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber doch ziemlich unwahrscheinlich, zumal es in Teilen der wahrscheinlichen Koalition in Deutschland große Vorbehalte gegenüber Macrons Plänen gibt.

6. Die repräsentative Demokratie ist zu wenig repräsentativ

In der EU-Politik wie in der nationalstaatlichen kommt ein weiteres Problem hinzu: Die repräsentative Demokratie ist nicht repräsentativ genug. Der bereits skizzierte Autoritarismus, der sich immer öfter in Wahlergebnissen und Regierungskoalitionen widerspiegelt, ist personalpolitisch rückwärtsgewandt. Das heißt, dass es weiterhin und vielleicht stärker als zuvor die wohlhabenden Männer sind, die das Sagen haben und in den entscheidenden Positionen sitzen. Der Anteil an Frauen in Parlamenten oder Regierungen wird dadurch kaum steigen. Auch Menschen mit Migrationshintergrund werden es weiterhin nicht leicht haben, in politische Ämter zu kommen.

7. Soziale Ungleichheit steigt und frisst Demokratie auf

Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, die ab 2008 über weite Teile der Welt zog, schien es eine Zeitlang so als würden die WählerInnen und PolitikerInnen ihre Lehren ziehen und gegen die Auswüchse einer allzu liberal gestalteten Weltwirtschaft ankämpfen. Dafür hätte es einiger Schritte bedurft, wie der Einführung einer Finanztransaktionssteuer, dem Austrocknen von Steueroasen, dem Kampf gegen korrupte Staats- und Regierungschefs, der Aufstockung der Entwicklungshilfe, der Bekämpfung von Hunger und absoluter Armut – alles machbar mit ein wenig politischem Willen. Die politische Krise, die sich an die ökonomische anschloss, hat diese Hoffnungen aber schnell zunichte gemacht. Heute sehen wir, dass ein Grundübel jeder Demokratie nicht bekämpft, sondern weiter befördert wird: Dieses Grundübel ist die soziale Ungleichheit. Schon in der griechischen Antike waren sich politische Beobachter und Philosophen darüber bewusst, dass Ungleichheit der Demokratie schadet, sie geradezu auffrisst. Das liest man bei Aristoteles und Polybios, später bei Rousseau, bei den Vertretern der Frankfurter Schule, bei Albert Camus und heute bei Stiglitz, Piketty, Crouch, u.v.a. Das heißt nicht, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft gleich viel Vermögen besitzen oder Einkommen beziehen sollten, aber es heißt, dass die Abstände zwischen den Reichsten und den Ärmsten eine Erträglichkeitsgrenze benötigen. Im Grunde heißt es, dass die Ärmeren genug für ein würdiges Leben haben müssen, denn dann akzeptieren sie auch den Reichtum einiger weniger. Und es heißt vor allem, dass sich der politische Einfluss nicht am Bankkonto orientieren darf, sondern dass die Gleichheit der politischen Beteiligung unabhängig vom sozialen Status und der ökonomischen Situation garantiert sein muss. Wird dem nicht Rechnung getragen, so ist die Ausbreitung der oben genannten Phänomene in Zukunft sehr wahrscheinlich.

8. Polarisierung nimmt zu

Die wahrscheinliche Konsequenz aus den skizzierten Entwicklungen ist eine weitere Zunahme der Polarisierung in den nächsten Jahren. Wenn die vielen Armen weiterhin ärmer, die wenigen Reichen weiterhin reicher werden, wird sich das Bedrohungsszenario für die Mittelschicht weiter zuspitzen. Wer sich bedroht fühlt, sehnt sich nach Sicherheit und einfachen Lösungen, die vor allem von RechtspopulistInnen geboten werden. Die politische Unsicherheit und der Protest werden dann bereits überwunden geglaubte Ideologien befördern. Manche Staaten werden es aushalten, weil sie lange Demokratie-Erfahrungen und starke Institutionen haben. Andere vielleicht nicht.