Dieser Text ist am 23. November 2017 in der Tageszeitung Der Standard als Kommentar der Anderen unter dem Titel „Direktdemokratie braucht mehr Kreativität“ erschienen.

 

In der Debatte um die Stärkung direktdemokratischer Elemente fehlt es an Kreativität.

Alle Umfragen der letzten Jahre bestätigen, dass das Vertrauen in die Berufs- und Parteipolitik abnimmt. Gleichzeitig steigt der Wunsch nach mehr direkter Demokratie. Die Zustimmung zu einer entsprechenden, jedoch nicht näher bestimmten Reform, betrug zuletzt in allen Bevölkerungsgruppen um die 80 % und darüber. Parteien aus verschiedenen ideologischen Richtungen greifen diesen Wunsch folgerichtig auf und es scheint ganz so, als würde die nächste Regierung entsprechende Schritte setzen, damit aus einem Volksbegehren ab einer bestimmten Zahl an Unterschriften automatisch eine Volksabstimmung wird. Doch auch die Gegner dieser Art der Volksgesetzgebung formieren sich und warnen mit den bekannten Argumenten vor ihren Gefahren. Sie würde dem Populismus Tür und Tor öffnen, zu einer Polarisierung in der Gesellschaft führen und Minderheitenrechte bedrohen. Wie stark diese Argumente tatsächlich sind, bleibt umstritten. Empirisch gibt es wenige Hinweise darauf, dass dies ein Spezifikum direkter Demokratie wäre. Jedenfalls ist vor solchen Entwicklungen auch die repräsentative Demokratie nicht gefeit, wie sich derzeit eindrucksvoll in vielen europäischen und außereuropäischen Staaten zeigt. Aber wie auch immer man dazu stehen mag, so ist die öffentliche Debatte um den Reformbedarf der österreichischen Demokratie auf der Bundesebene doch von einer gewissen Ideenlosigkeit gekennzeichnet.

Faktum ist, dass die Zufriedenheit mit den derzeit gegebenen repräsentativen Strukturen und Mechanismen sinkt. Das sollte nicht unterschätzt werden. Faktum ist auch, dass die Kluft zwischen Berufspolitik und Bevölkerung größer wird. Die einen vertrauen den anderen nicht und scheinbar weiß man wenig voneinander. An diesem Punkt gilt es anzusetzen, denn es spricht alles dafür, dass wir es hier mit einem längerfristigen Phänomen zu tun haben und die Zustimmung zu den Parteien nicht wieder auf alte Werte steigen wird.

Ein möglicher Weg, die Demokratie nachhaltig zu verändern, besteht tatsächlich in einer Aufwertung direktdemokratischer Elemente. Dabei geht es sehr ums Detail. Wer diese Aufwertung will und etwa die Schweiz als Beispiel anführt, muss das Schweizer Modell auch genau studieren. Das schließt die Frage mit ein, inwiefern das dortige Verfahren zur Regierungsbildung übernommen werden müsste, bei dem die Bevölkerung möglichst genau abzubilden ist und das dem Prinzip der Konkordanzdemokratie entspricht, also gewisse Ähnlichkeiten mit dem in Österreich so ungeliebten Proporz aufweist – ein Modell, das sich an das französische Direktorium der Revolutionszeit oder antike Behörden anlehnt. Es hieße auch, dass wir auf Ergebnisse in manchen Bereichen länger warten müssten, denn die Einspruchsmöglichkeiten und Dialog-Notwendigkeiten beanspruchen Zeit. Die Verfahren sind komplex. Das Ping Pong zwischen Parlament und Volk verhindert Schnellschüsse und ist auf Dialog angelegt. Das alles wäre demokratiepolitisch nicht nachteilig, aber es widerspricht wohl den Erwartungen, die in ein solches Modell gesetzt werden. Die Qualität der Debatte müsste ebenfalls an jene in der Schweiz angepasst werden. Dort wird etwa eine umfangreiche Informationsbroschüre an jeden Haushalt versandt. Die Massenmedien sind zu neutraler Berichterstattung verpflichtet und Wahlwerbung von und für Parteien ist in Radio und Fernsehen verboten. Wer die direkte Demokratie à la Suisse anstrebt, muss sich also anstrengen, um deren Voraussetzungen und Standards zu realisieren.

Die Möglichkeiten für Demokratie-Innovationen sind damit aber noch lange nicht erschöpft. In der Politikwissenschaft hat sich ein ganzer Forschungszweig entwickelt, der sich damit auseinandersetzt, wie man zu einer inklusiveren Demokratie gelangen kann. Die Liste der Methoden ist lang. Einen auf kommunaler Ebene bereits häufig erprobten Ansatz etwa stellt das Participatory Budgeting dar. Dabei wird über einen gewissen Teil eines Budgets über ein öffentliches Beteiligungsverfahren entschieden. In Frankreich wenden dies bereits über 40 Städte an. In Paris oder New York wird die Verwendung beträchtlicher Summen des Budgets partizipativ beschlossen. Die Methode muss sich nicht auf Kommunen beschränken. Sie wäre grundsätzlich auf allen Ebenen, also auch der nationalstaatlichen und sogar der europäischen denkbar. In Österreich scheint hingegen noch kaum jemand über participatory budgeting nachzudenken oder es gar anzuwenden.

Was hingegen auf kommunaler und regionaler Ebene bereits Anwendung findet sind Bürger/innen-Räte, bei denen die Teilnehmer/innen per Zufallsprinzip aus der Bevölkerung ausgewählt und zur Mitwirkung an einem themenspezifischen Gruppenprozesses eingeladen werden. Die Ergebnisse werden öffentlich präsentiert und sollen auf diese Weise in die politische Entscheidungsfindung eingespeist werden. Die Schwäche an diesem Format ist allerdings dieselbe wie in Volksbegehren, nämlich seine Unverbindlichkeit. Ohne den Good Will der Berufspolitik kann wenig bewirkt werden und es kommt im schlimmsten Fall zu einer Alibi-Partizipation, die Frust erzeugt. Die besondere Stärke liegt aber in der aleatorischen Auswahl der Teilnehmer/innen, weil damit auch jenen die Möglichkeit der Partizipation ermöglicht wird, die normalerweise eher davon ausgeschlossen bleiben. Freilich stellt sich auch hier das Problem, dass jene, die weniger gebildet sind und sich weniger für Politik interessieren, eher freiwillig auf eine Teilnahme verzichten als andere. Jedenfalls hat der Losentscheid in der Demokratie insgesamt eine große Historie. Die attische Demokratie beruhte auf der zufälligen Besetzung der Ämter. Und die Geschworenengerichtsbarkeit setzt bis heute auf die Teilnahme aller Staatsbürger/innen, wenn das Los sie trifft. Bereits vor mehreren Jahrzehnten hat der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Dahl die Idee von „minipopolus“ entwickelt, die als „mini publics“ heute in verschiedenen Staaten angewandt werden. Dabei wird über ein Zufallsprinzip eine für die Gesamtbevölkerung repräsentative Gruppe gelost, die in einem moderierten Prozess sowie unter Einbeziehung von Experten und/oder Abgeordneten zu einem Thema diskutiert. Die konkreten Ausprägungen können stark variieren. Wer über solche Demokratie-Innovationen nachdenkt, sollte in Erwägung ziehen, ob man das Wahlvolk zu einer Teilnahme an gelosten Beiräten verpflichten und im Gegenzug deren Empfehlungen mit hoher öffentlicher Aufmerksamkeit und einer gewissen Verbindlichkeit versehen sollte.

Die Liste der möglichen Demokratie-Innovationen ist damit lange nicht erschöpft. In jedem Fall sollte die Debatte darüber geführt werden, wenn man die Kluft zwischen Berufspolitik und Bevölkerung schließen will. Doch selbst wenn die eine oder andere Maßnahme umgesetzt werden sollte, heißt das noch nicht, dass alle Probleme unserer gegenwärtigen Demokratiekrise damit gelöst wären. Eine wesentliche Gefahr bliebe davon vorerst unberührt, nämlich das steigende Maß der sozialen Ungleichheit. Dass diese das größte Gift für demokratische Staaten darstellt, ist seit der Antike eine der wenigen empirischen Gewissheiten der Demokratieforschung.