Wer sich in diesen politisch aufgeheizten Zeiten ein Mindestmaß an Objektivität bewahrt hat, kann nicht leugnen, dass wir in einer Welt leben, die von Ungleichheit geprägt ist. Ebensowenig kann geleugnet werden, dass diese Ungleichheit soziale und politische Gründe hat. Sie ist nicht zufällig entstanden.

Die Ungleichheit bezieht sich auf verschiedene Dimensionen des Lebens. Dabei sind Vermögen und Einkommen entscheidende Variablen für eine Reihe von weiteren existenziell bedeutenden Bereichen wie Zeit, Raum, Gesundheit oder Bildung. Beginnen wir mit der Zeitverteilung.

Wie viel Zeit hat ein Mensch statistisch betrachtet zur Verfügung? In einem Land wie Österreich beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung derzeit knappe 82 Jahre. Ähnliche Werte gelten für die meisten anderen west- und nordeuropäischen Staaten. Global betrachtet liegen wir damit an der Spitze. In den ärmsten Ländern der Welt hingegen beträgt die Lebenserwartung  nicht einmal 52 Jahre.

Sowohl global betrachtet als auch innerhalb von Nationalstaaten spielt die Frage des Einkommens eine entscheidende Rolle für die Verteilung der Lebenszeit. BezieherInnen von niedrigeren Einkommen haben auch in Europa eine deutlich geringere Lebenserwartung. Eine Berechnung für Deutschland ergibt 11 Jahre Unterschied zwischen Männern, die weniger als 60 % des mittleren Einkommens beziehen im Vergleich zu solchen, die mehr als 150 % des mittleren Einkommens beziehen.

Quelle: Bundeszentrale für Politische Bildung, www.bpd.de

Lebenszeit ist also sehr ungleich verteilt. Doch auch die täglich für einen selbst frei verfügbare Zeit ist nicht für alle gleich. Zwar hat ein Tag für jeden Menschen exakt 24 Stunden. Doch über wie viele dieser Stunden er/sie frei verfügen kann, ist eine andere Frage, die wiederum mit Einkommen und Beschäftigungsstatus sowie in der Folge mit Work-Life-Balance und Betreuungsaufgaben zu tun hat. Insofern ist die frei verfügbare Zeit für Frauen, insbesondere für alleinerziehende Frauen, deutlich geringer als für Männer. Abhängig ist jedoch auch die frei verfügbare Zeit von der eigenen Vermögens- oder Einkommenssituation. Wer sich finanziell keine existenziellen Sorgen machen muss, kann sich seine Zeit selbstverständlich freier einteilen als jemand, der von Monat zu Monat sein Einkommen für die Abdeckung der Grundbedürfnisse aufwendet und kein Vermögen besitzt. Mit anderen Worten: Mit mehr Geld kann man sich auch mehr Zeit leisten. Oder noch einmal anders: Wer mehr Geld hat, hat statistisch betrachtet auch mehr Zeit: mehr Lebenszeit und mehr frei verfügbare Zeit.

Eine weitere Dimension unseres Lebens ist der Raum, den wir zur Verfügung haben. Bezogen auf den Wohnraum zeigt sich laut Eurostat, dass 2015 ca. 17 % der EU-Bevölkerung in überbelegten Wohnungen lebten. Die höchsten Quoten verzeichnen dahingehend die ärmeren Mitgliedstaaten wie Rumänien, wo dies sogar für die Hälfte der Menschen gilt. Auch wenn die Frage der verfügbaren Wohnfläche von verschiedenen Aspekten abhängt und normativ einiges gegen eine zu starke Ausdehnung des Wohnraums spricht, gilt auch hier: Wer mehr Geld hat, kann sich mehr Wohnfläche leisten. Wer über wenig Vermögen oder Einkommen verfügt, hat tendenziell auch deutlich weniger Platz für sich zur Verfügung bzw. wohnt eher in überbelegten Wohnungen.

Einen noch stärkeren Zusammenhang gibt es zwischen Einkommen/Vermögen und Gesundheit. Global betrachtet wird es niemanden überraschen, dass in den ärmsten Ländern der Welt auch die gesundheitliche Lage am schlechtesten, die Gefahr von Epidemien am größten ist. Das hat viel mit nicht existenten oder maroden Gesundheitssystemen zu tun. Doch auch in den reichen Wohlfahrtsstaaten Europas haben ärmere Menschen ein höheres Krankheitsrisiko zu beklagen. Dies wirkt sich – wie bereits gezeigt – ganz maßgeblich auf die Lebenserwartung aus. Aber nicht nur. Menschen mit geringeren Einkommen leiden öfter an verschiedenen Krankheiten als wohlhabendere. Sie bekunden in Umfragen auch eine deutlich geringere subjektive Gesundheit.

Ungleiche Einkommens- und Vermögensverhältnisse sind ohne jeden Zweifel die Hauptursachen für Ungleichheit in Bezug auf Zeit, Raum und Gesundheit. Das mag manche mehr und andere weniger stören. Politische Akteure, die das stört – etwa aus Gerechtigkeitserwägungen heraus oder weil sie christliche Werte wie menschliche Gleichwertigkeit oder Nächstenliebe vertreten – haben eine Reihe von Möglichkeiten, um Maßnahmen dagegen zu setzen. Sie können entweder dafür sorgen, Einkommens- und Vermögensungleichheiten auf direktem Wege zu verringern – etwa durch gesetzliche Mindestlöhne, Kollektivverträge, steuerliche Umverteilung oder gendergerechte Bezahlung. Sie können aber auch versuchen, indirekt zu intervenieren, indem sie Arbeitszeiten verkürzen, Urlaubszeiten verlängern oder das Gesundheitssystem stärken. Zumindest können sie, wenn sie zumindest langfristig dagegen angehen wollen, die Gleichheit im Bildungsbereich erhöhen. Denn Bildung – ihrerseits sehr ungleich verteilt – ist einer der stärksten Hebel für höhere Einkommen und damit auch für ein längeres Leben mit mehr Zeit und Raum sowie besserer Gesundheit.